Und plötzlich ist man links

Und plötzlich ist man links

 

Sie nahm mich zur Seite und sagte hinter hervorgehaltener Hand: «Das bist doch du, die auch kifft, oder?» Ich nickte verschwörerisch, und wir waren Verbündete. Sie war anders als die anderen Schülerinnen. Eigenwillig und wild. Der erste Punk, den ich kennenlernte. Ich freute mich, eine so coole Gefährtin gefunden zu haben.

Es ging uns nicht um Politik. Wir hatten eine gute Zeit und loteten überall aus, wie weit wir gehen konnten. Wir lernten andere Punks kennen, wohnten in besetzten Häusern und quälten uns durch basisdemokratische Vollversammlungen. Die Welt zu verbessern, war das oberste Credo: gemeinsam, kreativ, mit neuen Ideen und freiheitlichem Denken. Ich gehörte nun zu den Linken und stellte diese Tatsache jahrzehntelang nicht mehr in Frage. Wir waren die Guten und alles war klar.

 

Und plötzlich ist man rechts

 

Sie nahm mich zur Seite und sagte hinter hervorgehaltener Hand: «Das bist doch du, die auch nicht geimpft ist, oder?» Ich nickte verschwörerisch, und wir waren Verbündete. Sie war anders als die anderen Lehrpersonen. Eigenständig, mit einem breiten Erfahrungshorizont. Ich freute mich, dass wir uns als Gleichgesinnte erkannt hatten.

Es ging anfangs nicht um Politik. Die Zeit der Pandemie war garstig, und alle waren wir damit beschäftigt, den Kopf über Wasser zu halten und unsere inneren Unsicherheiten möglichst klein zu halten. Die Impfung kam und sollte die Erlösung bringen. Doch anfangs durften nur die Ältesten. Die anderen zappelten vor Vorfreude. Als aus dem Dürfen ein Sollen und ein gesellschaftliches Müssen wurde, machte ich nicht mit. Doch damit gehörte ich plötzlich und überraschend zu den Rechten. Denn aus linker Sicht ist rechts böse und alles Böse rechts. Und nicht mitzumachen ist böse, also rechts.

 

Eine neue Chance

 

Die Antifa marschierte als gewaltbereiter Hooliganmob auf und verkörperte alles, was mir Angst und Schrecken einflösst und mein nach wie vor linksseitig schlagendes Herz stocken lässt: Marschieren unter unreflektierten Parolen, Gruppenrausch, Uniform und die Bereitschaft Andersdenkende zu bestrafen, sogar mit körperlicher Gewalt. Das ist nicht mehr nett, wie links es gerne wäre. 

Die Fronten und Wertvorstellungen sind durch die Coronakrise durcheinandergeraten. Viele haben wie ich ihre politische Heimat verloren. Neue Zusammenschlüsse sind entstanden, fernab von der starren Zuordnung in rechts und links. Eine neue Chance, die wir nutzen sollten, um die Welt zu verbessern: gemeinsam, kreativ, mit neuen Ideen und freiheitlichem Denken.

 

Karin Schneider, April 2022