Über die Mitschuld am Elend der Welt

Weltliche Schuld

 

Schuldig geboren und im Staube kriechend. Dieses Bild vom Menschen wurde meiner katholisch aufgewachsenen Mutter vermittelt. Sie mochte es nicht, da in ihren Augen jedes Kind unschuldig geboren wird und frei von Schuld ins Leben hinaustreten sollte. Sie wandte sich von der Religion ab, wie viele andere auch. 

 

Ich stehe im Supermarkt mit zwei Salatgurken in der Hand, die eine biologisch angebaut, aber in Plastik verpackt. Die andere unverpackt, aber nicht biologisch angebaut. Beide unterstützen das Schlechte der Welt. Die Gurke sagt mir, dass wir Menschen immer alles falsch machen. Ich kaufe stattdessen Salat aus Spanien und verlasse das Geschäft mit den üblichen Schuldgefühlen.

Die kollektive Schuld ist weltlich geworden. Wir stehen ihr genauso ohnmächtig gegenüber wie der Erbsünde. Sie wiegt schwer und es besteht kaum Aussicht die Sache zum Guten zu wenden. Offenbar entspricht uns dieses Prinzip.

 

Der Weg der Unschuld ist mühselig. Er führt mich mit einem Rucksack voller Einmachgläser zum Zero-Waste-Laden, zum Markt, zum veganen Geschäft am anderen Ende der Stadt. 

Kleider und Haushaltsgeräte kaufe ich grundsätzlich gebraucht, denn nur im Brockenhaus sind die Dinge frei von der Mitschuld am Elend der Welt.

 

Empfindungen bilden

 

Natürlich ist es wichtig, auch die Kinder auf den rechten Pfad zu bringen.

Zieht ein Kind die Wurst dem Tofu vor, erklärt man ihm das Elend der Schlachthöfe. Werden Gummibärchen verteilt, weist man darauf hin, dass Gelatine aus Knochenmehl besteht. Das begehrte T-Shirt löst einen Vortrag über die Arbeitsbedingungen in den Textilfabriken in Bangladesh aus. Gefällt einem Kind helle Haut besser als dunkle, erfährt es sogleich alles über Rassismus und die Geschichte der Sklaverei. Dem Jugendlichen, der das iPhone cooler findet als das Fairphone, wird sofort erklärt, mit welchem Schrecken im Kongo Dörfer entvölkert werden, um an das für unsere Mobiltelefone benötigte Kobalt zu gelangen. 

Sogar dem Baby könnten wir erklären, dass alle seine Windeln zusammen einen Regenwaldbaum kosten werden und dass es sich somit mitschuldig an der Klimaerwärmung macht. Die Schuld ist überall, auch schon für Kinder.

 

Sollen die Kinder wirklich die Bürde für diese Dinge tragen?

Mit der vermeintlichen Aufklärung geben wir bloss das Gefühl der Ohnmacht weiter. 

Freude wird an Schuld gekoppelt, wenn das neue Plastikspielzeug zusammen mit der Information um die Zustände in chinesischen Fabriken überreicht wird. 

Denn die Aussage dabei lautet immer: Deine unmittelbare Empfindung den Dingen gegenüber ist nicht richtig! Trau deinen Gefühlen nicht! Das, was du gut findest, was dir gefällt und schmeckt, ist in Wirklichkeit böse!

 

Aber müssen wir nicht unseren Empfindungen vertrauen können, um eigenständige Positionen einzunehmen, um für etwas einzustehen oder uns von einer Sache abzuwenden?

Wir sollten unseren Kindern ermöglichen, ohne moralischen Ballast zu erkunden, was sie mögen und was nicht, und dabei die Aufmerksamkeit auf die Empfindungen statt auf die Zensur richten.

Die kollektive weltliche Schuld begegnet uns im Leben früh genug. Für den Umgang mit ihr sind wir besser gerüstet, wenn wir gelernt haben, eigenständige Urteile zu fällen.

 

Karin Schneider - Mai 2022